Die kontroverse Religionsauffassung im Drama „Nathan der Weise“
Die Religion war zu Lessings Zeiten hochgradig kontrovers. Kirchliche Lehre, Schriftauslegung, kirchliche Praxis – an jedem dieser Bereiche konnte die Kritik ansetzen. Das Christentum musste sich, vor allem auf der katholischen Seite, um Argumente bemühen, denn das Autoritätsargument, Gott als letztgültige Instanz in allen wichtigen Fragen anzusehen, überzeugte nicht mehr. Man musste über alle drei Bereiche neu nachdenken und sich in ein neues Verhältnis zur Vernunft setzen. Im Bereich der Lehre ging es um die Wahrheit in der Frage, ob Gott sein unbegreifliches Wesen geoffenbart habe oder ob er ein Produkt der Einbildungskraft sei. War Gott zum Beispiel gerecht? Leibniz hatte diese Frage bejaht: Der Mensch lebe in der besten aller möglichen Welten. Im Bereich der Schriftauslegung waren kritische Exegeten notwendig für den rechten Gebrauch der Vernunft bei den zu klärenden Widersprüchen. Im Bereich der Praxis ging es schließlich um Duldung (Toleranz) und Liebe.
Das Christentum war eine Lebensweise (βίος) und musste aus diesem Blickwinkel beurteilt werden, entschied Lessing. Im Drama „Nathan der Weise“ wird darum vor allem die praktische Seite der Religion thematisiert. Tritt der Tempelherr beispielsweise mit dem gewohnten Totalanspruch des Christentums auf oder ist er bereit, andere Religionen zu dulden? Dieser Aspekt ist wesentlicher als essentialistische. Dokumentiert wird die Genese einer funktionalistischen Religionsauffassung, Inhalte, wie zum Beispiel der von Daja vertretene Vorsehungsglauben, werden dagegen überwunden. Es war also durchaus möglich, Religion unabhängig von ihren Inhalten zu betrachten, vielmehr darauf zu sehen, welcher Gebrauch von ihr gemacht wurde.
Was aber war die Religion, praktisch gewendet? Ein neues Leben, Liebe? Bestand sie nicht in der Herausforderung, die göttliche Liebe allen Menschen zu erweisen?
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