Clemens Brentano: „Der Spinnerin Nachtlied“
Es sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall,
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.
Ich sing und kann nicht weinen,
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein,
So lang der Mond wird scheinen.
Als wir zusammen waren,
Da sang die Nachtigall.
Nun mahnet mich ihr Schall,
Dass du von mir gefahren.
So oft der Mond mag scheinen,
Denk ich wohl dein allein.
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.
Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.
Gott wolle uns vereinen,
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen.
Erinnerung ist der Wiederholung im weitesten Sinne verwandt, was besonders deutlich an den von den Romantikern so geschätzten Volksliedern wird. Denn die in eingängigen Strophen sich wiederholenden Volkslieder weisen die Erinnerung als Sehnsucht nach einer ursprünglichen und universalen Erfahrung aus.
Das vorliegende Gedicht – „Der Spinnerin Nachtlied“ von Clemens Brentano aus dem Jahr 1818 –, als Rollengedicht entworfen, lässt eine Spinnerin zu Wort kommen, die über den Verlust eines geliebten Partners klagt. Das traurige Ereignis – das wahrscheinlich in dem Tod des Geliebten besteht – liegt zwar viele Jahre bereits zurück, doch der frühere Schmerz wird wieder bewusst, als das Lied einer Nachtigall die Erinnerung daran wachruft.
In dem vorliegenden Gedicht sind sehr viele Wiederholungen vorzufinden. Zum einen tritt die manipulative Wirkung der Wiederholung auf der Ebene des Klangs hervor. Die volksliedhafte Prägung des Textes ist darauf gerichtet, im Klang der sich wiederholenden und mischenden Verse das abzubilden, was die Erinnerung nur unvollständig erahnen lässt.
Das Gedicht gliedert sich in sechs Strophen. Das Metrum ist regelmäßig und unterstützt so die Sangbarkeit des Liedes.