Oder: Kompensation als Ausweg
- Franz Kafka: Die Verwandlung
Vielleicht ist die Verwandlung Gregor Samsas, seine Annäherung an ein Ungeziefer, dessen Unterleib ständig schmerzt, der Annäherung des Kindes an die masochistisch geprägte Sexualität proportional. Wir lernen die schuldbehaftete Sexualität besser verstehen, wenn wir Gregor Samsa besser verstehen lernen. Gregor Samsa kompensiert nicht, er nimmt alle Schuld auf sich.
Die schuldbehaftete Sexualität Gregors ist eine Art von Minderwertigkeitsgefühl.
Gregor Samsa hat viel, für das er sich schämen könnte. Seine berufliche Stellung ist durchaus nicht gesichert. Mit welchem Recht bleibt er also länger im Bett liegen? Vielleicht ist Gregor ein Nachfahr jenes Atlas, indem er die Schuld der Familie in seinem Nacken trägt, ein Atlas auf schwachen Füßen allerdings: „Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen“ (Kafka 2015: 5). Es ist wohl gewiss, dass dieser schwache Angestellte die Existenz der Familie sichert, doch wäre er nicht vorhanden, ginge es auch ohne ihn weiter, wie es sich am Ende der Parabel zeigt. So aber, vom Ende her, kann es von Gregor nicht angesehen werden. Darum vielleicht ist er auch zum Ungeziefer geworden, weil er sich nicht entlasten (kompensieren) kann – weil er sich masochistisch, moralisch gesehen, verhalten muss. Ob ihm dies Verhalten vom Über-ich eingepflanzt worden ist, sei dahingestellt.
Vielleicht erlauben sich alle sonst in Gregor Samsas Kollegenkreis und in seiner Familie kleine Tröstungen, die den Kompensationsgedanken ermöglichen: „Andere Reisende leben wie Haremsfrauen“ (Kafka 2015: 6). Der Vater kompensiert seine niedrige Stellung als Diener durch eine „straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen“, in der er „gut aufgerichtet“ (Kafka 2015: 34) dasteht. Die Mutter ist mit einem kleinen Auskommen als Näherin beschäftigt.
Grete, Gregor Samsas Schwester, aber trägt keine Weltkugel im Nacken. Bei ihr hat schon das Alltägliche Gewicht.
Vielleicht gelingt Grete, Gregors Schwester, die Kompensation am besten. Denn „sie hatte sich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den Eltern aufzutreten […] Vielleicht aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung [i. e. Kompensation, Hervorhebung vom Verf.] sucht, und durch den Grete jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu können.“ (Kafka 2015: 30–31).
Glaubte Gregor an die Anhänglichkeit seiner Schwester?
Grete wird schließlich zur Anklägerin ihres Bruders: „Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“ (Kafka 2015: 45).
Arbeitsanregungen:
- Skizzieren Sie möglichst genau die Stationen und Symptome der „Schuld“ Gregor Samsas.
Beispiel für die erste Station:
Gregor „Schuld“ besteht darin, dass er länger als gewöhnlich im Bett liegen bleibt. Statt einfach aufzustehen und sich rasch zum Dienst zu begeben, dämmert er weiter in den Morgen hinein, abgelenkt durch die Abbildung der Dame im Pelz.
- Diskutieren Sie, ob und inwiefern es sich bei Gregors Verwandlung um ein Krankheitsbild handelt.