Eine emanzipierte Marquise?

Kleist entlässt den Leser nicht mit einem Happy End

Jochen Schmidt über Kleists „Die Marquise von O …“

Sachtextanalyse

Handelt es sich bei Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O …“ wirklich um die kunstvolle Darstellung einer weiblichen Emanzipation? Diese Frage wird in dem vorliegenden Auszug aus Jochen Schmidts 2011 in dritter Auflage erschienenen Monographie „Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche“ in der gebotenen Kürze behandelt. Anfänglich sei die Marquise an ihre Familie gefesselt, erhebe sich dann aber, so Schmidt, vor allem durch die mutige Zeitungsannonce, zu ihrer vollen Selbstständigkeit. Was diesen Schritt zur Mündigkeit, begrifflich gesehen, von Kants Mündigkeitspostulat unterscheidet, wird von dem versierten Kleist-Kenner ebenfalls kurz angeführt, damit an diesem Beispiel ein Charakteristikum von Kleists Dramen und Erzählungen deutlich wird.

Eingehender betrachtet werden soll diese Emanzipationsthese in der folgenden Untersuchung von Schmidts Ausführungen – und im zweiten Teil, auch mit Blick auf die Unterrichtsergebnisse, kritisch erörtert werden.

Unter folgenden Gesichtspunkten lässt sich der Text in sieben Abschnitte gliedern. Aufmerksamkeit verdiene vor allem die Titelfigur, behauptet Schmidt anfänglich (Z. 1–2). Denn an ihrem Beispiel erzähle Kleist eine weibliche Emanzipationsgeschichte, was sein Hauptanliegen sei. Zunächst verweist Schmidt auf die Ausgangssituation. Anfangs, so werde es vom Erzähler dargestellt, sei die Marquise auf ihre Aufgaben im Haushalt bezogen. Sogar in der Frage ihrer Wiederverheiratung überlasse sie die Entscheidung den anderen in der Familie (Z. 2–9). Dann erhalte der Leser ein erstes Bild vom Selbstständigwerden der Marquise: Als der Vater sie aus dem Haus weist, behält sie die Kinder gegen seinen Willen bei sich (Z. 9–14). In dieser Notlage erfahre sie sich selbst. Ihr Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein befähige sie zu den nächsten Schritten. Sie wage es sogar, die schockierende Anzeige in die Zeitung setzen zu lassen (Z. 14–21). Diesen Erfolg, bezogen auf ihren Emanzipationsprozess, hebe Kleist als Schlüsselstelle hervor, indem er zyklisch auf ihn zurückverweise (Z. 21–26). Die Schritte zur Emanzipation vollzögen sich jedoch anders, als es in Kants Mündigkeitspostulat beschrieben wird: Nicht theoretische Überlegung führe zur Mündigkeit, sondern ihr Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein, als man ihr die Kinder nehmen will. Dann erst, führt Schmidt dem Leser vor Augen, auf einer zweiten Stufe, handle die Marquise selbstbewusst, indem sie die erwähnte Anzeige in die Zeitung setzen lässt (Z. 27–36). Selbstbewusstsein setze Selbstfindung voraus, schließt Schmidt den Gedankengang ab (Z. 36–39). Dieser schmerzhafte Prozess der Selbstfindung, ausgelöst in Extremsituationen, sei immer wieder in den Dramen und Erzählungen dieses Schriftstellers zu finden.

Der Gliederung soll die Untersuchung von Einzelaspekten folgen: Besondere Beachtung, heißt es anfangs, verdiene die „Hauptgestalt“ (Z. 1), die Titelfigur der Novelle. Der Grund hierfür wird in knapper Setzung beschrieben; Schmidts These lautet: „Kleists Ziel war es, die Geschichte einer weiblichen Emanzipation zu erzählen“ (Z. 1–2). Ausdrücklich ist von einer „weiblichen“ Emanzipation die Rede, von der in „kunstvoller Stufenfolge“ (Z. 2) erzählt werde. Es geht Kleist also darum, legt Schmidts auffällige Formulierung nahe, den Prozess einer weiblichen Befreiung darzustellen. Ob in „Kleists Dramen und Erzählungen“ (Z. 38) insgesamt auch männliche Emanzipationsgeschichten dargestellt werden, beispielsweise in der Novelle „Michael Kohlhaas“, lässt der Schlusssatz des vorliegenden Textes immerhin offen. Eine weibliche Emanzipationsgeschichte liegt vor, deren Rahmen in den folgenden Zeilen vorgestellt wird. Schmidt klärt zunächst die Ausgangslage, in der sich die Marquise nach dem Tod ihres Mannes befindet, indem er die entsprechende Passage zitiert (vgl. Z. 4–6). Eine Frau, deren Verhalten keineswegs emanzipiert erscheint, sei die Marquise in dieser Situation, „in der Obhut des Elternhauses […] ganz im häuslichen Wirkungskreis aufgehend“ (Z. 6–7). Ein schlagender Beweis für ihre Abhängigkeit sei, dass sie die Entscheidung über ihr Verhältnis zum Grafen in andere Hände gibt. Die Situation ändere sich erst, als der Vater sie aus dem Haus weist. Die Marquise lehnt es ab, die Kinder herauszugeben, die Tochter widersetzt sich dem Vater. Es komme „zu einer abrupten Wende“ (Z. 11). Nach diesem Wendepunkt gelinge es ihr, wie Schmidt im Folgenden zeigt, sich unabhängig von ihrem Vater zu behaupten. Vorbehaltlos beruft Schmidt sich dabei auf die bewusste Stelle, in welcher das bekannte Lügenmotiv aus der Münchhausen-Erzählung aufgegriffen wird (vgl. Z. 12–14). Doch wer kann sich an dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen? Aber für Schmidt kommt, wie es scheint, ein satirischer Hintergedanke von Seiten des Autors nicht in Betracht. Aus Schmidts Sicht „erfährt sich die Marquise [in der existenziellen Bedrohung der Extremsituation] als zum selbständigen Handeln befähigt“ (Z. 14–15). Die weiteren Schritte verstehen sich für den Kleist-Kenner wie von selbst: Auf das „Bewusstsein der Selbstständigkeit“ (Z. 16) folge ein „ganz neues Selbstbewusstsein“ (Z. 17). Mit ihrer Anzeige schockiere die Marquise schließlich „die Welt“ (Z. 20) – für Schmidt eine „Schlüsselstelle“ (Z. 21), der Höhepunkt der von Kleist kompositorisch geschickt arrangierten Emanzipationsgeschichte. Der Wissenschaftler hält also daran fest, dass die Emanzipation der Hauptfigur in drei Schritten sich entwickelt. Auf die Selbstfindung nach der Verstoßung durch den Vater folge, zweitens, das Bewusstsein der verzweifelten Lage, welches der Marquise, drittens, zu neuem Selbstbewusstsein verhilft.

Im Folgenden gleicht der Autor seine Erkenntnisse hinsichtlich der Marquise mit Kants Mündigkeitpostulat ab. Hier gilt laut Schmidt ein Vorbehalt, denn die weibliche Hauptgestalt gelange nicht durch „Bewußtsein zum Handeln“ (Z. 28), sondern durch „existenzielle Betroffenheit“ (Z. 31). Angespielt wird auf die Verstoßung durch den Obristen (vgl. Lektüre, S. 21): Dieser weist die Tochter an, ihre Kinder herauszugeben – eine Forderung, der sie sich „instinktiv“ (Z. 32) widersetze. An dieser Stelle werde erst das Bewusstsein, dann das Selbstbewusstsein der Frau angeregt, was sie, wie in Kants Formel angedeutet, allerdings auf einer zweiten Stufe, dazu befähigt, die Annonce aufzugeben: Sie findet den Mut, sich ihres Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Anm. 2). Schmidt schließt mit dem Hinweis, dass vergleichbare „Prozesse der Selbstfindung“ (Z. 38) in vielen Dramen und Erzählungen Kleists zu finden seien. Außer den weiblichen gibt es darunter offenbar auch männliche Emanzipationsgeschichten.

Bezüglich der sprachlich-formalen Gestalt des vorliegenden Textes lässt sich festhalten, dass die Interpretation der Novelle auf wenige Fragen reduziert wird: Es geht Jochen Schmidt darum, zu klären, ob die Marquise sich aus der Abhängigkeit von der Familie befreit und über welche Stufen der Emanzipationsprozess erfolgt. Der Autor löst diese Aufgabe mit großer Bestimmtheit und vielen Belegen aus der Novelle. So stellt er die These hinsichtlich der „weiblichen Emanzipation“ gleich an den Anfang, im Präteritum, einem Tempus, das keinen Widerspruch zu dulden scheint: „Kleists Ziel war es, die Geschichte einer weiblichen Emanzipation zu erzählen“ (Z. 2). Die Ausgangslage und die sich anschließenden Stufen der Emanzipation referiert Schmidt sowohl sachlich als auch pointiert, aber auch mit einem freieren Erzählton, indem er z. B. mittendrin einen Ausruf einschaltet, um die Abhängigkeit der Marquise deutlich zu machen (vgl. Z. 8–9). Auffällig ist der häufige Gebrauch von Kursivsetzungen, der bewirkt, dass die These hinsichtlich der gestuften Emanzipation auch im Schriftbild hervortritt.

Am Schluss dieser Analyse soll die Frage stehen, ob die Argumentation des Kleist-Kenners mit Blick auf die Unterrichtsergebnisse sich als haltbar erweist. Für die Stichhaltigkeit der Argumente spricht z. B. die überzeugende Interpretation der Ausgangslage. Angesichts der von Schmidt anschaulich nachvollzogenen Abhängigkeit kann die vergewaltigte Frau gewissermaßen gar nicht anders, als sich zu wehren. Sie muss sich emanzipieren, soll sie nicht untergehen.

Auf der Gegenseite fehlt meiner Ansicht nach irgendein Hinweis darauf, dass die Emanzipationsgeschichte ironisch, teilweise sogar sarkastisch erzählt wird. Vorbehaltlos, wie bereits gesagt, bezieht sich der Autor hinsichtlich der Selbstfindung der Marquise auf die bewusste Stelle, in welcher das bekannte Lügenmotiv aus der Münchhausen-Erzählung aufgegriffen wird (vgl. Z. 12–14). Doch wer kann sich an dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen? Ein zweiter Einwand gegen die vorgebrachte These betrifft die von Schmidt beschriebene Stufenfolge, welche Kleist „kunstvoll[…] entfalte“ (Z. 2). Schwerlich aber entsteht meines Erachtens bei der Lektüre der Eindruck, dass von einer Frau erzählt wird, die die Stufen zur Selbstständigkeit Schritt für Schritt emporsteigt, um schließlich an der höchsten anzulangen. Wie viele Rückschritte sind erkennbar, wie viele Momente der Unterwerfung! Die Unterwerfung unter den Vater gehört hierher, die sogenannte Versöhnungsszene, „mit zurückgebeugtem Nacken“ (Lektüre S. 32, Z. 42) bietet die Marquise ihr Gesicht, ihren Mund dem Vater zu fortgesetzten Küssen an – wie ein Tier dem Alphatier die Kehle. Selbst das Ende dieser Emanzipationsgeschichte kann als fauler Kompromiss gedeutet werden, verhilft ihr die Vermählung mit dem Vergewaltiger – dem Teufel und Engel in derselben Person – doch nicht zu Kindern eigener Herkunft, sondern zu einer „Reihe von jungen Russen“ (Lektüre S. 37, Z. 13).

Handelt es sich bei Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O …“ um eine Emanzipationsgeschichte? Jochen Schmidts Interpretationsthese kann meiner Meinung nach nur mit vielen Vorbehalten bejaht werden. Eingehender, als es im vorliegenden Text geschieht, sollten doch die Abgründe hinter Kleists Kippfiguren ausgelotet werden. Erst dann träte die „lebendige Wahrheit“ hinter dieser Emanzipationsgeschichte hervor. Nicht nur der Graf, auch die Marquise müsste als Kippfigur wahrgenommen werden. Hat sie beispielsweise um die Vergewaltigung gewusst? Hat sie das Geschehen objektiv verdrängt? Hat sie dem Grafen vergeben? Es kommt aus meiner Sicht darauf an, klarzustellen, dass Kleists Erzählung den Leser nicht mit einem Happy End entlässt. Gewalt wird in dieser Novelle weder verklärt noch wiedergutgemacht.