Nathan hat einen Vorläufer in Hiob, dessen Leiden Thema der biblischen Überlieferung ist. Was diesem an Schmerz zugefügt worden ist, wird in den ersten Kapiteln des Buches Hiob mitgeteilt. Darauf greift Lessing zurück. Der fromme Mann als Spiegel, in dessen Rahmen sich das Leid in unsäglicher Gestalt darstellt, artikuliert auf ergreifende Weise das Unbehagen an einer vermeintlich für ihn vorherbestimmten Wirklichkeit. Nicht genug, dass der fromme Mann all sein Vieh einbüßt, auch die Knechte kommen um, „mit der Schärfe des Schwerts“, Hiobs Söhne und Töchter werden bei einem Wirbelsturm erschlagen. Gott wird fürs Erste nicht entschuldigt. Die Hiobfrage steht am Anfang einer Reihe von Theodizeefragen.
Lessing sagt: Erst die Kompensation begründet das, was an Nathan weise ist. Er wird erst dadurch zum Weisen, dass in ihm eine neue Form der Leidbewältigung entsteht, eine neue Form der Theodizee. Insofern muss der fromme Mann Toleranz entwickeln.
Nicht in unmittelbarer Reaktion auf das zugestoßene Leid – in den ersten Tagen überwogen Trauer und Hass, wie Nathan zugibt:
NATHAN Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wisst wohl aber nicht, dass wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wisst
Wohl nicht, dass unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen.
KLOSTERBRUDER Allgerechter! NATHAN Als
Ihr kamt, hatt ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. –
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Hass zugeschworen –
KLOSTERBRUDER Ach! Ich glaub’s Euch wohl!
NATHAN Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm’: »Und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast;
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!« – Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, dass ich will! – Indem stiegt Ihr
Vom Pferd’, und überreichtet mir das Kind,
In Euern Mantel eingehüllt. – Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab ich
Vergessen. So viel weiß ich nur; ich nahm
Das Kind, trug’s auf mein Lager, küsst es, warf
Mich auf die Knie’ und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!
(IV, 7; V. 3037–3066)
Insofern ist Nathan ein „Homo compensator“, um Odo Marquards Formel zu zitieren (Homo compensator. Zur anthropologischen Karriere eines metaphysischen Begriffs. (Kolloquiumsvortrag des 12. Deutschen Kongresses für Philosophie am 3.10.1981 in Innsbruck.) – In: G. Frey / J. Zegler (Hrsg.): Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Bd. 1. Innsbruck: Solaris, 1983, S. 55–60). Ohne Fortschritte in der Vernunft zu machen, wäre es ihm schlechter gegangen. Und Gott wird in den Fortschritt einbezogen. Auch das liegt auf der Linie der Ringparabel: Ohne Fortschritt der Religionen wäre Gott nicht gerecht.
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