Anmerkungen zu Brechts „Leben des Galilei“
Dass der Deutschunterricht den Schauspieler thematisiert, ist ungewöhnlich. Ungewöhnlicher ist, dass er so wenig berücksichtigt wird. Nirgendwo sonst ist so von der Nachahmung die Rede, und die Nachahmung spielt in der Schule eine große Rolle.
Die Schauspieler sind vor allem Träger der Handlung, was an den englischen Ausdrücken „actress“, „actor“ deutlich wird. Sie müssen nicht Menschen nachahmen. Sie könnten auch Tiere nachahmen. Selbst im Tier auf der Bühne begegneten uns dann nachgestellte Handlungen, in sich reflektierte Handlungseinheiten, die die verkörpernde Person im Tierkostüm überdeckten. Diese in sich reflektierten Handlungseinheiten werden von den Schauspielern in Sprechakten artikuliert.
Ohne Zweifel kann jede Äußerung auf der Bühne – und übrigens auch im Leben – pragmatisch, d. h. als eine Art Handlung aufgefasst werden. Ihre Elemente brauchen also nicht, wie es bei der traditionellen Grammatik vorkommt, isoliert betrachtet werden, sondern im Hinblick auf den gemeinsamen Zweck. Eine Schauspielerin kann mit einem verhängnisvollen Satz den Krieg erklären und damit ihre Absichten offenlegen. Der Vollzug der Erklärung als „deklarativer Akt“ – siehe die beigefügte Tabelle! – hat dabei Bedeutung, nicht die Beziehung der Elemente zueinander – Subjekt, Prädikat und Objekt als Positionen innerhalb der Kriegserklärung. Szenenanalyse bedeutet in diesem Zusammenhang, nach Gründen zu suchen, die in der durch die Schauspielerin vollzogenen Handlung, der auf der Bühne vorgestellten Person der Handelnden, ihren Absichten und Zielen, ihrer Beziehung zu anderen Personen liegen mögen.
Brecht hat darauf hingewiesen, dass wir den Menschen auf der Bühne nicht so erleben, „wie er ist“. Die Situation des Schauspielers sei komplizierter, er solle deshalb bei der Probe die Regieanweisungen mitsprechen, sogar erfinden und mitsprechen. Nirgendwo sonst wird das so gezeigt: im Voraus reflektierte Sprechakte, die auf der Bühne größeren Raum einnehmen als im wirklichen Leben und dadurch bedeutsam werden. Schauspieler X spielt beispielsweise Galileo Galilei, den in seiner privaten, historischen Existenz Geldsorgen quälten. Brecht möchte, dass auch dies während der Probe studiert wird: „Der Schauspieler […] soll zum Beispiel dem Satz, den er zu sprechen hat, voraussetzen: Darauf sagte ich böse, denn ich hatte nicht gegessen“ (Bertolt Brecht: Schriften zum Theater 4. 1933–1947. Über den Beruf des Schauspielers. Anmerkungen zu den Stücken. Der Galilei des Laughton. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1963, S. 33).
Im ersten Bild des Galilei macht Andrea, der Schüler des Wissenschaftlers, das Problem der finanziellen Not bewusst, indem er, im Auftrag der Mutter, eine Warnung artikuliert, die, wie ein bedeutendes Bild, zwischen die wirklichen Zuschauer und die wirklichen Schauspieler geschoben wird: „Mutter sagt, wir müssen den Milchmann bezahlen. Sonst macht er bald einen Kreis um unser Haus, Herr Galilei“ (Leben des Galilei. Schauspiel. Suhrkamp Basis Bibliothek, Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1998, S. 9). Ob der Junge den so genannten „adhortativen“ Sprechakt – siehe die beigefügte Tabelle! – sich aneignet oder ob er die Warnung nur beiläufig im Auftrag übermittelt – dieses zu entscheiden, ist für den Schauspieler des Jungen von besonderem Wert.
Aufgaben:
- Gliedere die erste Szene, einen Teil davon, in Handlungseinheiten auf. Vom Umfang her solltest du mindestens eine Seite, möglichst zwei Seiten der Buchausgabe, heranziehen. Welchen Teil du nimmst, bleibt dir überlassen.
- Ordne diesen Einheiten Sprechaktverben (s. Anhang) zu. Erläutere jeweils deine Entscheidung! Ein knapper Satz als Erläuterung jeweils reicht aus.
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