Zur Darstellung der Liebe im Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“
Die möglichen Begriffe von Wahrheit, die im Zusammenhang mit der Liebe ins Spiel kommen, sind sehr unterschiedlich. Wenn es heißt, dass wahre Liebe nur in poetischen Bildern ausgedrückt werden könne, dann steht damit ein anderer Begriff von Wahrheit auf dem Prüfstand als bei der Aussage, dass Wahrheit stärker als Lüge sei. Während die Wahrheit im Sinne wissenschaftlicher Forschung der Lüge nämlich eine Grenze setzt – und damit die Wirklichkeit auf Gesetze und Ausgangsbedingungen zurückführt – schlägt die Liebe hinsichtlich der Lüge eine andere Richtung ein. „Wahre Liebe“, was immer das heißen mag, ist kein wissenschaftlicher Begriff. Wahre Liebe lehrt den umgekehrten Umgang mit der Lüge.
Brecht – um den es im Folgenden geht – der Dichter, der das klassische Theater mit dem epischen Theater quasi zu einem wissenschaftlichen Theater umgeformt hat, tendiert allerdings bei der Darstellung dieser Sache dazu, eine Ausnahme zu machen, indem er gewissermaßen wissenschaftlich verfährt. Bertolt Brechts poetische und dramatische Texte neigen dazu, Liebe zu trivialisieren, d. h. sie auf Gesetze und Ausgangsbedingungen zurückzuführen.
Shen Te, der es nicht gelingt, sich als Heldin zu erweisen, beweist schließlich am Beispiel ihrer Romanze mit dem stellungslosen Flieger Yang Sun, dass sie nicht nur von den Umständen beherrscht wird. „Der Engel der Vorstädte“ entpuppt sich damit als ein doppelt abhängiger Charakter. Als gewerbsmäßig Liebende wird die Prostituierte Shen Te eingeführt. Die Möglichkeit, auch hinsichtlich der Liebe neu anzufangen, wirft sie in eine Beziehung mit dem egoistischen Yang Sun, der kaum halbherzig vorgibt, zu lieben.
Arbeitsanregungen:
- Setzen Sie sich kritisch mit der Frage auseinander, ob die These von der Trivialisierung der Liebe für Brechts Werk zutrifft. Nehmen Sie daher erläuternd Stellung zu einigen Beispielen aus dem Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“. Berücksichtigen Sie insbesondere die Szene „Abend im Stadtpark“!
- Inszenieren Sie Teile dieser Liebesszene im Sinne des epischen Theaters, indem Sie sie mithilfe der im Unterricht erprobten Mittel verfremden.
- Wie wird „wahre Liebe“ demgegenüber in Brechts „Terzinen über die Liebe“ dargestellt?
Terzinen über die Liebe
I.
Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
II.
Aus einem Leben in ein andres Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
III.
Daß also keines länger hier verweile
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
IV.
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen.
V.
So mag der Wind sie in das Nichts entführen;
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
VI.
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
VII.
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin, ihr?
Nirgendhin.
Von wem entfernt?
Von allen.
VIII.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem.
Und wann werden sie sich trennen?
Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
Zur Deutung der „Terzinen über die Liebe“
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