Galilei im Karneval

Das zehnte Bild aus Brechts Schauspiel „Leben des Galilei“

Der Mensch ist nicht das Thema des epischen Theaters. Sicher ist häufig vom Menschen die Rede in Brechts Theaterstücken. Es gibt berühmte und gute Menschen im Werkverzeichnis des Dichters zu finden: Antigone, Galilei, die heilige Johanna usw. – sollte es Brecht, unter dem Deckmantel der Biografie, nicht um den Menschen gegangen sein? In allen Gestalten spiegelt sich jedoch nur, was der Dichter als sein primäres Thema betrachtet. Der Mensch ist dabei nur die Fundstelle, der Ort, an dem das Thema sich erschließt. Brechts Interesse gilt gesellschaftlichen Fragen, kurz: der Frage, was die Gesellschaft für den und in dem einzelnen Menschen bedeutet.

Was dies im Zusammenhang des Schauspiels „Leben des Galilei“ heißt, erfahren wir aus dem zehnten Bild, aus der Sprache und Gebärde des Karnevals, der auf den Kopf gestellten Welt. Es ist der Diskurs des Volkes, welcher das Bild beherrscht, nicht die „Discorsi“ des Gelehrten Galilei. Die im zehnten Bild dargestellte Menge, wie es an der Zurschaustellung der Schausteller deutlich wird, bedient sich besonders drastischer Zeichen, einer Sprache, die der Sprache des Forschers entgegengesetzt ist. Die speziellen Fragen des Astronomen werden dabei reduziert auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Forschung – eine Frage, der Brechts Galilei kaum Beachtung schenkt.

Die auf den Kopf gestellte Welt

Um ein Verständnis des Dramas zu erreichen, müssen wir uns folgende Frage stellen:

Wovon handelt die Ballade des zehnten Bildes, das „Lied des kleinen Mannes“? Der Balladensänger, d. i. der Schausteller mit der Trommel und der großen Stimme, darf dabei als Pars pro Toto gelten, als Teil des Ganzen. Er trägt nur vor, was „man in ganz Oberitalien singt“ (Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Schauspiel [Fassung 1955/56]. Berlin: Suhrkamp Verlag 1998, S. 97, Z. 15), das Lied vom Umsturz der alten Ordnung. Er stellt also selbst keine Fragen, sondern befeuert mit seinem marktschreierischen Lied nur die allgemeine karnevalistische Stimmung. Es passt dazu, was Brecht an Leitlinien für das epische Theater entworfen hat, dass Plakate, Transparente über die Bühne getragen werden, dass Projektionen auf Leinwänden eingeblendet werden. Lebte Brecht in unseren Tagen, dürften die Hashtags, Kommentare, Bilder der sozialen Medien über diese Leinwände flimmern. Für Brecht sind gesellschaftliche Prozesse im Grunde konkret. Was Galilei dem Volk bedeutet hat, bringt er darum im Karneval auf die Bühne.

Galilei als Puppe

Auch in der überlebensgroßen Puppe, als die Galileo Galilei in diesem Karneval präsentiert wird (ebd. S. 101, Z. 17–20), steckt Brechts Idee des epischen Theaters. Es geht nicht darum, sich in den Menschen einzufühlen.

Episches Theater

„Dramatisch“ bezeichnet den Typus des Theaters, wie es von Aristoteles beschrieben worden ist. Dieser Typus ist für Jahrhunderte maßgeblich geworden. Dass „gehandelt“ wurde und eben nicht „erzählt“, gehörte zu den Erfolgsbedingungen des Dramas. Darauf konnte die Moral des jeweiligen Stückes aufbauen. Das epische Theater dagegen hat sich vieler Kunstgriffe bedient, um das Erzählerische auf der Bühne wirksam werden zu lassen.

Aufgabe:

  • Überprüfen Sie, inwiefern das Schauspiel „Leben des Galilei“ Züge des epischen Theaters aufweist. Beginnen Sie mit dem zehnten Bild.
  • Brecht selbst meinte, dass sein Stück „technisch ein großer Rückschritt gewesen sei“. Machen Sie Vorschläge, wie die Idee des epischen Theaters im zehnten Bild besser umgesetzt werden könnte.

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