Liebe und Gewalt in „Kabale und Liebe“
Kabale und Liebe, II, 5
SZENENANALYSE
Alle Zitate beziehen sich auf die Ausgabe im Hamburger Lesehefte Verlag, 2012.
Es ist bemerkenswert, zu sehen, dass Liebe, stößt sie auf Widerstand, sich in ihr Gegenteil verkehrt. Was sich liebt, das tötet sich schließlich! Vermutlich ist Friedrich Schiller daran gelegen, diesen Konflikt auf der Bühne zu demonstrieren. Liebe und Gewalt bilden zumindest das Thema in der vorliegenden Szene. Ferdinand von Walter, der adlige Liebhaber aus Schillers bürgerlichem Trauerspiel „Kabale und Liebe“, meint, seine Liebe zu der Bürgerstochter Luise Miller hebe die Ständeschranken auf. Darum möchte er die sechszehnjährige Luise für sich gewinnen und zur Ehefrau machen. Der unbedingte Anspruch auf grenzenlose Liebe mag daran abgelesen werden, dass er keinen Widerspruch in dieser Frage duldet. Auch Gewalt ist ihm Mittel zum Zweck. Das Trauerspiel ist 1784 erschienen und zählt zum Frühwerk Friedrich von Schillers. „Kabale und Liebe“ ist damit ein Drama aus der Epoche des Sturm und Drang. Das Drama des Sturm und Drang ist meist melodramatisch gestaltet, d.h. es enthält Elemente der Rührung, der Melancholie und des schrecklichen Leidens.
Mit dem unmittelbaren Kontext der Szene verhält es sich folgendermaßen: Nach der Unterredung mit Lady Milford sucht Ferdinand das Haus der Millers auf. Die Familie ist in heller Aufregung. Präsident von Walter hat über seinen Sekretär Wurm von der Mésalliance seines Sohnes erfahren.
Die Szene lässt sich in folgende Abschnitte gliedern:
33, 25–31: Aufregung bei den Millers,
33, 32–34, 9: Ferdinands Andeutungen über seinen Besuch bei Lady Milford,
34, 10–24: Wutausbruch Ferdinands,
34, 25–37: Luises Enttäuschung und Trauer angesichts der neuen Entwicklung,
34, 38–43: Wütende und verzweifelte Reaktionen von Luises Eltern,
35, 1–5: Erneuter Wutausbruch und Abgang Ferdinands,
35, 6–18: Verzweifelte und bittere Vorwürfe der Familie gegen Ferdinand,
35, 19–35: Leidenschaftliche Liebesbeteuerungen und endgültiger Abgang Ferdinands.
Bei der Analyse sollen kommunikationstheoretische Aspekte im Vordergrund stehen. Besonders wichtig ist dabei die Frage, wie Ferdinand und die sechszehnjährige Luise miteinander kommunizieren.
Von Beginn an ist klar, dass Ferdinand Luise ins Unglück stoßen wird. Paradoxerweise hat ihre Liebesbeziehung nämlich zur Folge, dass Ferdinand mehr und mehr um sich selbst kreist. Immer heftiger werden seine Gefühlsausbrüche, immer eigenartiger seine Reden. Indem Ferdinand an seiner Geliebten vorbeiredet, befördert er unwissentlich ihr tragisches Schicksal. An der vorliegenden Szene lässt sich zeigen, dass die durch den Standesunterschied vorgegebenen Kommunikationsprobleme zwischen den Liebenden durch den eigensinnigen Ferdinand zusätzlich erschwert werden.
Ferdinands Selbstkundgabe in dieser Szene beinhaltet z. B. folgende Selbstzuschreibungen : Keiner kämpft so wie ich für die Liebe (vgl. 34, 23–24)! Ich wage „etwas Unerhörtes“ (35, 33), weil ich mit aller Kraft gegen die gesellschaftlichen Normen angehe. Deutlich wird, dass dieser junge Liebende ungebrochen daran glaubt, allen Widerständen trotzen zu können. So spricht jemand, der von seinem Genie maßlos überzeugt ist.
Ferdinands Appelle aber könnten so aufgefasst werden: Lasst mich nur machen (vgl. 62, 23)! Seid gewiss, dass ich Großartiges vollbringen werde (35, 30–33: „Es ist nicht Wahnsinn, was aus mir redet. Es ist das köstliche Geschenk des Himmels, Entschluss […] etwas Unerhörtes“)! So spricht jemand, dessen unbändigen Phantasien die Anderen in Millers Haus, einfache Bürger allesamt, nicht folgen könnten, wenn überhaupt sie dazu bereit wären. Luises Reaktion zeigt es denn auch allzu deutlich (35, 28–29: „Mir wird bange! Blick weg! Deine Lippen beben. Dein Auge rollt fürchterlich – “).
Klar ist damit auch, dass die Beziehung zwischen den Gesprächsteilnehmern erheblich gestört ist, die nur noch, so scheint es, aus Angst vor dem Präsidenten zusammen kommen. Ferdinand, von seinen Gefühlen übermannt, redet mehr mit sich selbst als mit den anderen (34, 13–18: „Nein! Nimmermehr! Unmöglich, Lady! Zu viel verlangt! […] Lady, blick hieher – hieher, du Rabenvater – Ich soll diesen Engel würgen?“). Vater Miller, voller Wut, hat nur noch Hohn und Spott für den Liebhaber seiner Tochter übrig (35, 16–18: „Betrüger […] du sollst mir zuvor diesen wimmernden Wurm zertreten, den Liebe zu dir so zuschanden richtete“).
Luise verzweifelt vollends. Sie ist das eigentliche Opfer der Intrige. Ihr Appell könnte so formuliert werden: Sieh mich nicht so bedeutend an, Ferdinand (vgl. 34, 5)! Rede nicht von Gewissen, wenn du meinst, der mächtigen Lady gegenüber verpflichtet zu sein (vgl. 34, 7–8)! Hilf mir, aber richte mich nicht zugrunde (vgl. 33, 35)!
Das Gespräch in Millers Haus kennt eigentlich kein Gesprächsziel. Es herrscht allgemeine Aufregung, zu Beginn reden alle durcheinander (vgl. 33, 25–31, Regieanweisung: „Alle zugleich“), dann lassen alle auf der Szene ihren Gefühlen freien Lauf. Die Szene hat nun alles, was das bürgerliche Trauerspiel des Sturm und Drang kennzeichnet: Pathos, Rührung und Schauereffekte. Nicht nur die Sprache des adeligen Liebhabers, sondern auch die Sprache des Bürgers Vater Miller ist pathetisch (35, 16–18: „Betrüger […] du sollst mir zuvor diesen wimmernden Wurm zertreten, den Liebe zu dir so zuschanden richtete“). Immer steht alles auf dem Spiel (33, 33: „Höll und Himmel“: Hendiadyoin für: alles, was der Präsident gegen uns aufbieten mag; 35, 26–27: „den Faden zwischen mir und der Schöpfung [zerreißen]“: Periphrase für: Selbstmord). Luise, das bürgerliche Mädchen, rührt alle zu Tränen (34, 4: „Du tötest mich!“; vgl. Todesmetapher in 35, 35). Der skrupellose Präsident von Walter schließlich stellt den Inbegriff des Schreckens dar, den personifizierten Schauereffekt sozusagen (vgl. 33, 35–36; 35, 8–10).
Eine kritische Anmerkung: Das durch das bürgerliche Trauerspiel repräsentierte Gesellschaftsbild muss den heutigen Leser noch entschiedener abschrecken, als es den Autor von „Kabale und Liebe“ selbst abgeschreckt hat. Wie schlimm müssen Schiller die Ständeschranken vorgekommen sein, dass er Ferdinand von Walter und Luise Miller so schaurig-schrecklich untergehen ließ! Die Form aber, die Schiller gefunden hat, entspricht nicht dem heutigen Geschmack. Heutige Inszenierungen tragen dem Rechnung, indem sie das allzu Pathetische herausstreichen, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich machen und die Schwarz-Weiß-Malerei vermeiden. Die vorliegende Szene beispielsweise kann dadurch entschärft werden, dass die Zahl der Figuren reduziert wird. So haben Ferdinand und Luise, werden die ängstlichen Eltern aus der Szene herausgenommen, mehr Ruhe, über das zu reden, was ihrer Liebe gefährlich werden könnte.