Dreißig Jahre nach der schwierigen Korrespondenz mit dem Lordkanzler Francis Bacon lebte Lord Chandos noch. Wie lange nachher, weiß man nicht. Im Alter soll er nicht mehr so einsam gewesen sein. Manche haben ihn in der Kirche gesehen, schlank wie in der Jugend, das Gebetbuch zwischen den faltigen Händen.
Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief
Lösungen darf man im Brief des Lord Chandos nicht suchen. Immer wieder richtet sich der Blick dieser historisch kaum fassbaren Lordschaft auf das, was er als seine Entwicklung erkannt hat. Er versucht den Stellenwert einzelner Werke zu bestimmen. Wessen Werke sind es? Hat er sich nicht längst abgelöst von den Ideen, die ihn als 23-jährigen beherrscht haben? Ein Entwurf der Jugend behandelt die Chronologie der frühen Regierungsjahre Heinrich VIII., ein anderes, unvollendetes Werk besteht in einer Sammlung von Sinnsprüchen, Festen und Bräuchen und soll den Titel „Nosce te ipsum“ (Erkenne dich selbst!) tragen.
Immer wieder ist die Frage nach der Intention des 1902 veröffentlichten, Epoche machenden „Briefs“ Hugo von Hofmannthals gestellt worden. Ist es die Frage nach dem eigenen Weg? Ist es eine Studie über die Biographie des österreichischen Dichters selbst, der sich ähnlich wie der fiktive Verfasser des berühmten „Briefes“ um 1900 in einer tiefen Schreibkrise befunden hat? Das ist nicht auszuschließen, wenn dabei nicht „die kategoriale Verschiedenheit von Biografie und Dichtung“ (Szondi 1978: 266) übersehen wird.
Zitierte Literatur:
Peter Szondi: Intention und Gehalt. Hofmannsthal ad se ipsum, in: Schriften II. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1978.
Arbeitsanregungen:
- „Ein paar Worte über mich“ – beginnen Sie als Lord Chandos sich selber vorzustellen.
- Überlegen Sie sich einen Anlass für diese Selbstdarstellung, etwa die Bewerbung um ein politisches Amt.
- Wenn Ihnen diese Selbstdarstellung im Hinblick auf den von Hofmannsthal fingierten Lord nicht möglich erscheint, wegen der in dem berühmten „Brief“ beredt geschilderten Sprachnot Seiner Lordschaft, verfassen Sie ein Empfehlungsschreiben für ihn, das z. B. von Francis Bacon stammt.
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