Probleme zeitgenössischer Dichtung
Von Ingeborg Bachmann stammt der Satz, dass eine neue Sprache eine neue Gangart brauche. In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung vom 25. November 1959 geht es ihr hierbei vor allem um die Dichter und ihre Werke. Gerade die Dichter empfänden nämlich schmerzlich die Grenzen, die der Ausdrucksfähigkeit auferlegt sind. Zuweilen zögen die Dichter sich sogar in das Schweigen zurück. In ihrem Vortrag bezieht die Autorin sich ausdrücklich auf Hugo von Hofmannsthals berühmten „Brief“, der 1902 erschienen ist und Epoche gemacht hat. Wer sich mit diesem Brief beschäftigt, der weiß, dass dessen fiktiver Absender letztlich daran gescheitert ist, eine „neue“ Sprache zu finden. Ingeborg Bachmanns Absicht besteht darin, zu zeigen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, dass, dichterisch gesehen, eine neue Sprache entsteht, die der Wirklichkeit gerecht wird.
Der Argumentationsgang lässt sich folgendermaßen einteilen.
- Das Problem der Rechtfertigung des Dichters
(Z. 1–3) - Der historische Prozess der Dichtung: von der Auftragsdichtung zur Autonomie des Dichters
(Z. 4–13) - Die Krise der dichterischen Produktivität
(Z. 13–19) - Die neuere gesellschaftliche Entwicklung im Spiegel der Selbstzweifel des Dichters
(Z. 20–29) - Forderung nach einer brauchbaren, der Wahrheit verpflichteten Dichtersprache
(Z. 30–44).
Wir haben zwei Worte für das Ich und die Sprache und meinen, dass sie von Natur aus getrennte Bereiche bezeichnen. Was kann der Dichter also tun, wenn er nicht mehr im Auftrag eines Anderen, sondern in seinem eigenen schreibt? Es geht Ingeborg Bachmann in dieser Vorlesung um die Frage nach dem Existenzrecht des Dichters (Z. 1–4: „Die erste und schlimmste dieser Fragen […], die den Schriftsteller zu bewegen hat, betrifft die Rechtfertigung seiner Existenz […] Warum schreiben? Wozu?“). Die Autorin hat, wie in der Analyse zu zeigen wäre, einen hohen Begriff von der Aufgabe des Dichters, macht sie doch die Rechtfertigung des Dichters von der Wahrheitsfrage abhängig. Ihr Vortrag lässt sich offenbar von Anfang an auf eine ethische Frage zurückführen, die lautet: Ist der Dichter der Wahrheit etwas schuldig geblieben? Wenn nicht, dann soll er (als Schriftsteller) existieren!
Es ist gut, die Dichtung in Epochen einzuteilen. Ingeborg Bachmann bedient sich dieser Einteilung. Sie beschreibt, ohne es buchstäblich in Worte zu fassen, die Entwicklung der Literatur. Sie unterscheidet zwischen der Literatur, die im Auftrag eines Anderen geschrieben wird (vgl. Z. 4–5), und der, die im eigenen Auftrag geschrieben wird (vgl. Z. 10–11). Sie behauptet, dass diese Entwicklung, im Allgemeinen und im besonderen Fall des einzelnen Dichters, dem Dichter „erst spät“ (Z. 3) bewusst werde. Sie spricht ausdrücklich vom möglichen „Ende der Dichtung“ (Z. 15–16). Daran knüpft sich die Frage, woran der Dichter scheitern könne. Für Ingeborg Bachmann spielen hierbei verschiedene Einflüsse eine Rolle: Beliebigkeit, Parteilichkeit (Z. 10–11: „Und ist der Auftrag, wenn er ihn sich selbst zu geben traut […] nicht beliebig, befangen?“), Irrtum (Z. 11–12: „bleibt er nicht […] der Wahrheit immer etwas schuldig?“), Überheblichkeit (vgl. Z. 12–13). Scheitert ein Dichter, so sei das aber keine rein biographische Angelegenheit (vgl. Z. 13–15). Es sei wichtig, die Voraussetzungen der Krise zu berücksichtigen (vgl. Z. 15–19).
Der Dichter ist in Bachmanns Augen der Spiegel, in dessen Rahmen der gesellschaftliche Wandel sichtbar wird. Kennzeichen für die neuere Entwicklung sei die „Unsicherheit der gesamten Verhältnisse“ (Z. 23). Die Autorin hat dafür eine passende Formulierung parat. Sie spricht davon, dass die Wirklichkeit völlig „verformelt“ sei (Z. 25). Den Naturwissenschaften ist es allem Anschein nach überlassen, die Wirklichkeit mithilfe ihrer Formeln abzubilden. Dem Dichter fehlt laut Bachmann zunehmend die Kraft, die Wirklichkeit anders zu interpretieren (Z. 25–26: „Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert“).
Die Autorin beschäftigt sich abschließend mit der Frage, von welcher Qualität eine „neue“ Sprache sein müsse (Z. 30). Diese Sprache könne nur von Wert sein, wenn sie mit Erkenntnis einhergeht, „wenn ein neuer Geist sie bewohnt“ (Z. 34–35). Der Dichter müsse sich weniger auf die Seite der Schönheit als auf die der Wahrheit stellen (Z. 43–44: „[die Sprache will] weder zuerst noch zuletzt ästhetische Befriedigung […], sondern neue Fassungskraft“).