Ein Stadtgedicht
Der Sinn des Lebens ist zu verteidigen gegen die Großstadt, die den eigentlichen Schauplatz unseres Lebens bildet. Das Leben ist schon kein Leben mehr, in dessen Aderwerk die Straßen sich tief hinein verzweigen. „Krieg der Stadt!“ könnte daher die Parole zu dem 1911 entstandenen Sonett „Die Stadt“ von Georg Heym lauten. Das Gedicht entspricht der Fortschritts- und Kulturkritik des Expressionismus, der sich vehement auflehnt gegen die „objektive Kultur“ der Moderne, die, wie der Soziologe Georg Simmel es formuliert hat, „über alles Persönliche hinaus[wächst]“ (Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Aufsatz aus dem Jahr 1903, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 39). Die Monotonie und Anonymität des Lebens in der Großstadt, die Überreiztheit des Städters ist Georg Heyms Thema.
Georg Heym:
Die Stadt (1911)
Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.
Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.
Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.
Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,
Die drohn im Weiten mit gezückter Hand
Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand.