Die Wahrheit durch ein Bild –

Methodenwissen: Analyse einer Parabel

In den von Johann Gottfried Herder herausgegebenen jüdischen Parabeln steht die Fabel eines alten Mannes, dem spät abends auf einer Reise die Stadtmauern verschlossen bleiben und der darauf im Freien übernachten muss. Da fragt sich der Leser: Wie wird der Mann die Nacht überstehen? Jeder weiß doch, dass die Nacht Gefahren birgt. Jeder kennt dies aus den Sprichwörtern und Weisheiten, die jener Parabel zufolge von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben werden. Wer dies aber nicht weiß, dem hilft die Parabel selbst.

Ein frommer Weiser kam vor eine Stadt, deren Tore geschlossen waren; niemand wollte sie ihm öffnen: hungrig und durstig musste er unter freiem Himmel übernachten. Er sprach: „Was Gott schickt, ist gut“, und legte sich nieder.

Neben ihm stand sein Esel, zu seiner Seite eine brennende Laterne, um der Unsicherheit willen in derselben Gegend. Aber ein Sturm entstand und löschte das Licht aus. Ein Löwe kam und zerriss seinen Esel. Er erwachte, fand sich allein und sprach: „Was Gott schickt, ist gut.“ Er erwartete ruhig die Morgenröte.

Als er ans Tor kam, fand er die Tore offen, die Stadt verwüstet, beraubt und geplündert. Eine Schar Räuber war eingefallen und hatte eben in dieser Nacht die Einwohner gefangen, weggeführt oder getötet. Er war verschont. „Sagte ich nicht“, sprach er, „dass alles, was Gott schickt, gut sei? Nur sehen wir meistens am Morgen erst, warum er uns etwas des Abends versagte.“

Kurz gesagt: der Mann hat eine Erfahrung gemacht, wie sie nicht schöner als in der vorliegenden Form hätte aufbewahrt und kultiviert werden können. Es ist die Parabel mit ihren allegorischen Zügen, die diese Erfahrung enthält. Manchmal drohend, manchmal begütigend, hilft sie „dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“ (Christian Fürchtegott Gellert).

Arbeitsanregungen:

  • Erschließen Sie die Lehre der vorliegenden Fabel.
  • Vergleichen Sie Kafkas „Kleine Fabel“ und die Türhüterparabel („Vor dem Gesetz“) mit der vorliegenden Parabel.

Lösungsansatz:

Bildebene → Sachebene

Stadt → Leben

verschlossene Stadttore → Hindernisse im Leben

freier Himmel → Möglichkeiten: Risiken und Gefahren

Esel → körperliche Kräfte

Laterne → geistige Kräfte: Intelligenz, Ideen, Wissen

Sturm → Leiderfahrung: metaphysisches Leid

Löwe → Leiderfahrung: physisches Leid

Morgenröte → Hoffnung: Leben nach dem Leid