Ein brückenloser Abgrund

Kurze Typologie der Krise des Lord Chandos Die existentielle Krise des sechsundzwanzigjährigen Lord Chandos zeigt sich in der Unangemessenheit von Vergangenheit und Gegenwart, von Werk und Seele. Ein „brückenloser Abgrund“ (47,25) trenne sein gegenwärtiges Dasein von dem vergangenen, bekennt Lord Chandos. Unangemessenheit – das heißt einerseits: die Seele ist größer als das Werk. Lord Chandos betrachtet daher die Jugendwerke – also das, was er objektiv geleistet hat – mit einer gewissen Herablassung: „[B]in denn ich’s, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen ,neuen Paris‘, jenen ,Traum der Daphne‘, jenes ,Epithalamium‘ hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele, […]

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Ein Brief an Francis Bacon

Die Pathologie der Ausdrucksformen Die Wirkung von Hofmannsthals Epoche machendem „Brief“ – am 18. und 19. Oktober 1902 in der Zeitschrift „Der Tag“ erschienen – beruht auf einem Paradox. Dieses führt die „geistige Krankheit“ des Absenders in selbstbewusst sich gebender Sprache vor. Lord Chandos, der fiktive Absender des Briefes, entschuldigt sich: Er werde von der Sprache Abschied nehmen müssen und seine schriftstellerische Produktion einstellen, da die Sprache ihm nichts mehr sage. Will der Leser das Paradox gedanklich richtig erfassen, so muss er dessen doppelte Bestimmtheit festhalten: einerseits das absurde Verhältnis zwischen Inhalt und Form, wenn der Absender des Briefes […]

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Vom „Tod“ der Sprache

„Sprachkrise“ und literarische Moderne Es ist ein langer Weg von Herder bis zur literarischen Moderne. Es ist eine lange Entwicklung vonnöten, bis einer wie Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) der Sprache nicht mehr viel abgewinnen kann. Sie sei auf ihre kommunikative Rolle, ihren bloßen Verkehrswert, herabgesunken und daher „so abgegriffen wie schlechte Münzen“ (Hugo von Hofmannsthal, GW X 413 [Aufzeichnungen 1896]). Es bildet sich das heraus, was in den Deutschbüchern als „Sprachkrise“ gehandelt wird. Natürlich liegen der Sprachkrise andere Gesetzmäßigkeiten zugrunde als die Gesetzmäßigkeiten der Sprache selbst. Untersuchen Sie diese Gesetzmäßigkeiten, indem Sie die gesellschaftlichen Ursachen der Sprachkrise benennen! Weitere […]

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Sprache, subjektiv betrachtet

Herder: Sprache und Reflexion Da die Sprache und die Reflexion laut Herder ineinanderfallen, ist es klar, dass eine derart zentrale Kategorie wie die Form in beiden vorzufinden ist. Da die Form jedoch eine übergeordnete Kategorie ist, tritt auch der Unterschied zwischen Sprache und Reflexion deutlich hervor. Die Sprache – als Sprache der Natur – ist darauf gerichtet, sich mitzuteilen. Darin besteht die objektive Form der Sprache – in der Kommunikation (Mitteilung). Es ist bekannt, dass Herder die Reflexion als Akt der Besinnung fasst. Dabei ist von einer bestimmten Beziehung zur Welt die Rede. Die Reflexion ist laut Herder darauf […]

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Das Ohr als Lehrmeister der Sprache

Herder: Die Sprache als Affektausdruck Der bei den Romantikern gebräuchliche Begriff des Sprachorgans ist nicht in jeder Beziehung eine Metapher. Denn es ist die Energie eines Organs, ohne die die Entstehung der Sprache nicht denkbar wäre. Für Johann Gottfried Herder beispielsweise ist der Sprachursprung immer mit Affekten verbunden. Sprache entsteht aus dem Gefühl, ist als Sprache der allgemeinen, in uns wirkenden Natur emotionales und nicht repräsentatives Zeichen. „Schon die antike Theorie kennt diese Ableitung der Sprache aus dem Affekt, aus dem πάθος der Empfindung und der Lust und Unlust. […] Diese [Sprache] ist nicht das Werk einer bloßen Konvention, […]

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Spontaneität der Sprache

Herders dynamisches Sprachmodell Die Theorie der menschlichen Spontaneität bildet die Grundlage von Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache. Spontaneität ist das Thema jenes Zeitalters, in dem die Bestimmung des Menschen zum Problem geworden ist. Spontaneität ist in sprachlicher Hinsicht Ausdruck und Darstellung innerer Begriffe. Es wäre oberflächlich und künstlich, die Sprache stattdessen an allgemeine Begriffe knüpfen zu wollen. Allgemeine Begriffe, als Kennzeichen der einheitlichen Vernunft, finden sich in der Theorie des philosophischen Idealismus, bei Platon, Descartes und Leibniz. Für Herder dagegen gibt es keine abgesonderte Verstandeskraft, die sich der Sprache als Instrument bedient. Spontaneität (Selbsttätigkeit) bringt für ihn […]

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Über die Sprache des Menschen

Als Wirbel- und Säugetier ist der Mensch dem Tier untergeordnet, als Person ist er ihm entgegengesetzt. Demnach bestehen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Gegensätze zwischen Mensch und Tier. Hinsichtlich der Sprache gilt: Sowohl der Mensch als auch das Tier sprechen. Bestimmte Wirbeltiere, Graupapageien zum Beispiel, können eine erstaunliche Vielzahl von Wörtern artikulieren. Wer jedoch den Begriff der Sprache in diesem Sinne verwendet, lässt die Darstellungsfunktion der Sprache unberücksichtigt. Es liegt auf der Hand, dass die Tier- und Menschensprache Signalsprache ist. So muht die Kuh, wenn sie gemolken werden möchte; so signalisiert der Mensch durch sein Räuspern, dass er angehört werden möchte. […]

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