Ein unnatürliches Brüllen

Georg Heym: Die Irren (1910) Der Titan Prometheus soll für seinen Mut, den Göttern zu widersprechen, an einen dunklen Felsen im Kaukasus geschmiedet worden sein. So war er gewissermaßen unsichtbar geworden. Der titanische Feuerzünder war verschwunden und die Wahrheit über die Götter mit ihm. Es gibt weitere Söhne und Töchter aus der Verbindung von Mutter Erde, Gaia, und Vater Himmel, Uranos, die die Mutter zum Widerstand gegen die Götter angestachelt hat. Hyperion und Theia, die Lichtgestalten, Okeanos, der Weltenstrom, Themis, das Naturgesetz, und Mnemosyne, das Gedächtnis, Atlas, der das Himmelsgewölbe stützt – diese Liste der Titanen ließe sich fortführen […]

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Deserteure, Zuchthäusler und Verbrecher

Expressionismus und Gewalt   Die Expressionisten brauchten offenbar die Konfrontation mit der Gewalt. Gottfried Benn erinnert in dem Vorwort der 1955 erschienenen Gedichtsammlung „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“ daran, wie sehr diese Stilrichtung die Zeitgenossen gerade wegen dieses Aspekts herausgefordert hat. Und Benn scheint genau daran seinen Spaß zu haben: „Deserteure, Zuchthäusler und Verbrecher“ seien die Expressionisten, zitiert Benn aus „einem Verlagsalmanach wörtlich“. Ist also der Expressionismus als „eine Art Ku-Klux-Klan“ zu betrachten? – folgert der Dichter in ironischer Zuspitzung der zeitgenössischen Kritik. Ganz entschieden, so Benn, sei die Meinung abzuwehren, dass der Expressionismus geradezu sadistische Lust an der Gewalt […]

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Zur Nacht gehört die Antithese

Andreas Gryphius‘ Sonett „Abend“ Die barocke Angst entspringt der Erkenntnis, dass alles im Leben verdreht ist, wenn es keinem höheren Zweck mehr dient. Es gibt Gedichte, die das zum Ausdruck bringen, wie Andreas Gryphius‘ Sonett „Abend“. Dieses Gedicht aus dem Tagzeitenzyklus hat einen Ernst, der einem Tattoo glänzend zu Gesicht stünde. Denn das Gedicht ist in eminentem Sinne emblematisch. „Emblematisch“ bedeutet hier nicht nur „bildlich“, sondern „bildsprachlich“. Das Emblem macht aus dem in ihm enthaltenen Bild eine Aussage, meist moralischen Gehalts. Das barocke Gedicht weiß daher nicht viel von Gefühlen. So auch Gryphius‘ Abendgedicht. Es gibt keinen Mond in […]

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Ginkgo biloba

Gingko biloba Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut. Ist es Ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als Eines kennt? Solche Fragen zu erwidern, Fand ich wohl den rechten Sinn: Fühlst du nicht an meinen Liedern, Dass ich Eins und doppelt bin? Interpretationshypothesen: Der Lieblingsbaum Johann Wolfgang von Goethes ist der Ginkgo-Baum, das lebende Fossil, das im 18. Jahrhundert auch in Europa heimisch wurde. Die Bildung des Blattes ist derart beschaffen, dass Goethe es „als Sinnbild […]

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Krieg der Stadt!

Ein Stadtgedicht Der Sinn des Lebens ist zu verteidigen gegen die Großstadt, die den eigentlichen Schauplatz unseres Lebens bildet. Das Leben ist schon kein Leben mehr, in dessen Aderwerk die Straßen sich tief hinein verzweigen. „Krieg der Stadt!“ könnte daher die Parole zu dem 1911 entstandenen Sonett „Die Stadt“ von Georg Heym lauten. Das Gedicht entspricht der Fortschritts- und Kulturkritik des Expressionismus, der sich vehement auflehnt gegen die „objektive Kultur“ der Moderne, die, wie der Soziologe Georg Simmel es formuliert hat, „über alles Persönliche hinaus[wächst]“ (Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Aufsatz aus dem Jahr 1903, Frankfurt am […]

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Brücken zur Moderne

Impressionismus und Expressionismus in Bild und Text Expressionismus und Impressionismus werden gemeinhin als Gegensätze betrachtet. Das heißt, was die Impressionisten in der Darstellung der lebendigen Luft dahingleitender Wolken abbilden wollten, lässt sich bei den Expressionisten nicht vorfinden. Die Idee, das Licht selbst zum Gegenstand zu machen und seine Reflexe zum Leuchten zu bringen, wie es Claude Monet zum Beispiel in seinen unzähligen Seerosenbildern festgehalten hat – es erscheint den Expressionisten unannehmbar. Auch die vom Sonnenlicht gesättigte, flirrende Atmosphäre auf der Leinwand, das harmonische Farbenspiel sind für die Expressionisten unmöglich. Die Landschaftsmalerei insgesamt erscheint als etwas Abseitiges und weicht den […]

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Die Irren

Georg Heym Man sagte immer, Deutschland sei das Land der Irren. Das gilt natürlich, wenn man den Expressionismus in den Blick nimmt, zum Beispiel das Gedicht „Die Irren“ (1910) von Georg Heym. Es war so formlos und verwirrend, obwohl es an die barocke Form des Sonetts gebunden ist. Es war so überwältigend neu: Hier bekam der Wahnsinn eine Stimme. Nietzsche hatte es vorausgesehen: Die Deutschen brauchten die Konfrontation mit der eigenen Schwäche, dem Ich-Zerfall. Georg Heym wies darauf hin: Hier klebten Menschen wie Spinnen an den Wänden, hier wurde der Umbruch plastisch, das Subjekt war verschwunden und ersetzt worden […]

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